Die Idee der evidenzbasierten Medizin lässt sich auf das in der zweiten Hälfte des im 18. Jahrhundert von britischen Ärzten entwickelte Konzept der medical arithmetic zurückführen.[18] Erstmals findet sich die Bezeichnung in dem 1793 publizierten Artikel An Attempt to Improve the Evidence of Medicine des schottischen Arztes George Fordyce.[19]
In Großbritannien wurde eine der ersten kontrollierten klinischen Studien durchgeführt. Schon 1753 veröffentlichte James Lind die Ergebnisse seines Versuchs, Skorbut mit Orangen und Zitronen zu behandeln. Im deutschsprachigen Bereich kommt dem in Wien tätigen ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) die Erstautorschaft für die Einführung der „systematischen klinischen Beobachtung“ in die medizinische Forschung zu (1848).
Die Gründung der modernen EbM geht auf die Arbeitsgruppe um David Sackett im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der McMaster University in Hamilton, Kanada, zurück, wo David Sackett seit 1968 als Gründungsdirektor der Abteilung lehrte. Das 1967 erschienene Werk Clinical Judgement des amerikanischen Mediziners und Mathematikers Alvan R. Feinstein sowie das 1972 erschienene Buch Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services des britischen Epidemiologen Professor Archie Cochrane führten zu einer zunehmenden Akzeptanz klinischer Epidemiologie und kontrollierter Studien während der 1970er und 1980er Jahre und ebneten so den Weg für die institutionelle Entwicklung der EbM in den 1990er Jahren. Cochranes Bemühungen wurden dadurch gewürdigt, dass ein internationales Netzwerk zur Wirksamkeitsbewertung in der Medizin – die Cochrane Collaboration – nach ihm benannt wurde. Cochrane selbst erlebte jedoch die Gründung der EbM-Bewegung nicht mehr und Feinstein entwickelte sich zu einem ihrer schärfsten methodologischen Kritiker.[20] Die Einführung der evidenzbasierten Medizin in die Chirurgie war auch ein Akt der Emanzipation von hierarchischen Strukturen.[21]
In den deutschsprachigen Ländern gründeten 1998 Angehörige von Universitäten, Fachgesellschaften, Institutionen des Gesundheitswesens und Gesundheitsberufen eine Fachgesellschaft zur Durchsetzung der EbM-Perspektive: das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Bald nach der Jahrtausendwende wurde die Anwendung der EbM institutionalisiert. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE), die US-amerikanische Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) und in Deutschland das von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung getragene Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) sind bekannte Beispiele. Einen gesetzlichen Auftrag hat in Deutschland das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Dieses und das NICE verwenden explizitdie Standards der EbM, um für das Gesundheitssystem die Aufnahme neuer Behandlungsverfahren zu evaluieren. Das britische NICE trifft diese Entscheidung selbst, während das deutsche IGWiG den eigentlich entscheidenden Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA berät.[22]
Wortherkunft
Die englische Bezeichnung evidence-based medicine wurde Anfang der 1990er Jahre von Gordon Henry Guyatt (* 1953) aus der Gruppe um David Sackett an der McMaster University, Hamilton, Kanada, im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics geprägt.[22][23][24]
Im deutschen Sprachraum publizierte erstmals David Klemperer im Jahr 1995 über Evidence based medicine.[25] Matthias Perleth prägte 1996 die deutsche Bezeichnung Evidenz-basierte Medizin.[26][27]
Im März 1998 wurde das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin gegründet (zunächst als informelle Arbeitsgemeinschaft). Ebenfalls 1998 verwendeten die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung in einer gemeinsamen Stellungnahme vielfach die Begriffe Evidenz-basierte Medizin, Evidenz-basierte Leitlinien und Evidenz.[28] Im Jahr 2000 wurde der Begriff evidenzbasierte Leitlinien in das Sozialgesetzbuch (SGB V) aufgenommen.[2] Im selben Jahr erschien das Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.[2]
Die Einführung des Begriffs evidenzbasiert löste Irritation aus, weil man das Wort Evidenz bis dahin im Sinne von „Offensichtlichkeit“ oder „unmittelbare Einsichtigkeit“ kannte, nicht aber im Sinne von „Nachweise, Belege, Beweismaterial“. Diese Bedeutung wurde nun vom englischen evidence auf das deutsche Wort Evidenz übertragen und war zunächst so neuartig, dass sie als falsch empfunden wurde (vgl. falscher Freund). Der anfängliche Widerstand zeigt sich noch in einem Lehrbuch zur Allgemeinmedizin aus dem Jahr 2004. Es enthält ein Kapitel Evidenz-basierte Medizin und Leitlinien, in dem zwar durchweg das Wort Evidenz in diesem Sinne verwendet wird, aber kritisch angemerkt wird, die korrekte Übersetzung sei eigentlich nachweisorientierte Medizin.[29] Dieser Vorschlag setzte sich nicht durch. Inzwischen haben sich die Begriffe Evidenz (im Sinne von empirische Evidenz) und evidenzbasiert über die Medizin hinaus als Standardbegriffe in der Wissenschaft etabliert. Im Duden wurde das Wort evidenzbasiert erstmals in der 25. Auflage (2009) verzeichnet.[30]
Quellen:
- Seite „Evidenzbasierte Medizin“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 18. September 2024, 09:21 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Evidenzbasierte_Medizin&oldid=248697473 (Abgerufen: 19. September 2024, 03:48 UTC)
- Seite „Netzwerk Evidenzbasierte Medizin“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 19. September 2024, 05:08 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Netzwerk_Evidenzbasierte_Medizin&oldid=248720227 (Abgerufen: 19. September 2024, 05:12 UTC)
- EbM-Netzwerk. Internetportal
- EbM-Netzwerk. Chronik des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (Stand 2023)
- Bundesärztekammer. Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizinischen Versorgung Beschlüsse der Vorstände von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung, Juni 1997. Dtsch Arztebl 1997; 94(33): A-2154 / B-1754 / C-1622
- Donner-Banzhoff N. Was zählt als Argument? Belege und Begründungen bei medizinischen Entscheidungen. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie. Bd. 102 (2024)
- Klemperer D. Qualität und Qualitätskontrolle in der Medizin. In: Damkowsky W, Görres S, Luckey K. Patienten im Gesundheitssystem – Patientenunterstützung und -beratung. Augsburg: Maro-Verl. 1995. p. 189-216.
- Ollenschläger G, Kunz R, Jonitz G, Evidence-Based Medicine: Wege zu einer rationaleren Medizin. Dtsch Arztebl. 1998;95:A–267–70
- Perleth M, Beyer M. Evidenz basierte Medizin, die Cochrane Collaboration und der Umgang mit medizinischer Literatur. Z ärztl Fortbild (ZaeFQ) 1996;90:67-73
- Raspe HH. Evidence based medicine: Modischer Unsinn, alter Wein in neuen Schläuchen oder aktuelle Notwendigkeit? Z ärztl Fortbild (ZaeFQ) 1996;90:553-62
- Raspe HH. Eine kurze Geschichte der Evidenz-basierten Medizin in Deutschland. Medizinhistorisches Journal. 2018; 53: 71-82
Stand: 21.9.2024